Über das Buch “ Lotta Wundertüte“ – Leben mit einem schwerbehinderten Kind

Am 11. März 2014 fand im Café „Wo ist Tom?“ in Köln eine Lesung des Buches „Lotta Wundertüte“ von Sandra Roth statt. Die Lesung war restlos ausverkauft.

Sandra Roth schreibt über die Schwangerschaft und die ersten Lebensjahre mit ihrer schwerbehinderten Tochter Lotta, die mit einer sehr seltenen Gefäßfehlbildung im Gehirn geboren wurde. Im neunten Schwangerschaftsmonat erfährt Sandra Roth von der Behinderung ihrer Tochter. Sie erzählt in ihrem Buch, welche Ängste und Sorgen sie um ihre kleine Tochter Lotta hatte und wie ihr Leben mit einem behindertem Kind bis jetzt verlief. Frau Roth las dabei mit viel Charme und Freude Auszüge aus ihrem Buch vor und beantwortete hinterher Fragen aus dem Publikum.
Vorher gab sie ein kurzes Interview:

Es war bestimmt ein ein Schock für Sie, als Sie im neunten Schwangerschaftsmonat erfahren haben, dass Lotta schwerbehindert sein wird und eventuell bei der Geburt sterben könnte. Was ist in dieser Zeit in Ihrem Kopf vorgegangen?

Sandra Roth: Das ist sehr schwer auszudrücken. Ich wollte es eigentlich nicht glauben und habe lange gedacht, dass die Ärzte sich irren. Wenn es schon so früh entdeckt worden ist, dann wird es auch gut, dann gibt es ein Happy End – etwas anderes konnte ich mir nicht vorstellen. Allerdings hatte ich in dieser Zeit auch einen quicklebendigen zweijährigen Sohn zu Hause. Da hat man Gott sei Dank nicht so viel Zeit zum Nachdenken. Ich glaube, wenn ich meinen Sohn in dieser Zeit nicht gehabt hätte, wäre ich wahrscheinlich verzweifelt. Aber mit ihm ging das ja zum Glück nicht, ich konnte nicht einfach im Bett bleiben und weinen.

Wie haben Freunde,Bekannte und Ihre Familie auf die Diagnose von Lotta reagiert? Und vor allen Dingen Lottas Bruder und ihr Vater?

Sandra Roth: Wenn mein Mann und ich uns damit auseinandergesetzt haben, war immer einer von uns am Verzweifeln und der andere war stark und hat gesagt, das wird schon und wir schaffen das. Das ist das Schöne daran, dass man zu zweit ist. Als ich Freunden und Bekannten gesagt habe, dass Lotta eine Behinderung haben könnte, haben viele gesagt „Jetzt warte doch erst mal ab“ und „Das wird bestimmt noch alles gut, lass Lotta Zeit“. Das ist auch eigentlich eine schöne Reaktion, aber nach einer gewissen Weile merkt man , dass nicht einfach alles gut wird. Lotta kann nicht einfach so laufen lernen, und es ist jetzt halt so, wie es ist. Es war, glaube ich, für alle sehr schwer. Jeder hat seinen eigenen Weg gefunden und es hat für jeden lang gedauert. Auch für eine Oma und einen Opa ist das schwer. Mein Schwiegervater ist immer noch derjenige, der meint ,dass Lotta uns eines Tages überraschen wird und uns zeigt, wo der Hammer hängt. Das ist auch schön, dass er so fest daran glauben kann und ich will ihm seinen Glauben auch nicht nehmen. Wer weiß denn auch? Man kann ja nie wissen. Wer weiß denn, was in Lotta steckt? Was weiß denn ich? Was weiß denn der Arzt? Es kommt ja immer darauf an, welchen Arzt man fragt. Wenn Lotta aber jetzt so bleibt, wie sie ist, dann ist sie schon toll. Darin ist sich unsere ganze Familie einig geworden. Meine Mutter ist jetzt auch dermaßen stolz. Wenn wir zum Beispiel shoppen gehen, dann will sie immer den Rollstuhl schieben. Das berührt mich jedes Mal.

Wie haben Sie Lottas größerem Bruder Ben vermittelt, dass seine Schwester schwerbehindert sein wird? Er war ja selber noch klein. Hat er es verstanden?

Sandra Roth: Als Ben mir gesagt hat, dass er irgendwann mal mit Lotta fangen spielen wolle, habe ich gesagt, dass nicht alle Kinder laufen lernen. Das fand er eine sehr seltsame Idee und fragte, wie sie denn dann irgendwo hin kommen solle. Ich sagte, sie bekäme einen Rollstuhl. Das sei ein Stuhl mit Rollen drunter. „Ich will auch einen,“ hat er gesagt: „Dann muss man auch nicht laufen.“ Für kleine Kinder ist ja alles seltsam. Es ist es komisch, dass Weihnachten nur einmal im Jahr ist. Und wie Kinder in den Bauch kommen. Dass das Kind aus meinem Bauch jetzt auch noch behindert da rauskommt, war für ihn nur ein Wunder unter vielen. Jetzt mit sechs Jahren merkt Ben langsam, dass nicht alle Kinder behinderte Geschwister haben, oder nur sehr wenige. Er findet das eigentlich schade, weil er sagt, das sind die besseren kleinen Schwestern, weil die so wenig kaputtmachen. Aus der Sicht eines Sechsjährigen ist das auch total plausibel. Er findet seine Schwester toll. Man merkt, dass er sehr stolz darauf ist, was sie alles kann. Für ihn ist die Behinderung nicht so wichtig. Er sagt auch schon mal, blöde Ader oder blöde Behinderung. Und das stimmt ja auch. Das darf er auch sagen.

Wie reagieren die Kinder im Kindergarten und die Freunde von Lottas Bruders, wenn sie zu Besuch kommen, auf Lotta?

Sandra Roth: Die ganz kleinen Kinder im Kindergarten reagieren ganz normal auf Lotta. Das ist sehr schön zu sehen. Sie können das noch nicht so richtig unterscheiden, die sind noch sehr viel unbefangener. Bei den etwas älteren Kindern merkt man, dass sie überlegen, wie sie am Besten reagieren sollen und was sie tun sollen. Lotta hat einige richtig gute Freunde gefunden im Kindergarten. Anderen Kindern ist sie egal, das ist, glaube ich, wie bei allen anderen Kindern auch. Mein Sohn ist jetzt in die Schule gekommen, und als ich ihn zum ersten Mal mit Lotta im Rollstuhl abgeholt habe, habe ich mir kurz Sorgen gemacht, weil ich nicht wusste, wie seine neuen Mitschüler reagieren. Sie wussten ja nicht, dass Bens Schwester behindert ist. Dann hat sich sein neuer bester Freund, den er ja erst sehr kurz kennt, hingestellt, hat auf die ganzen Kinder geguckt, die Lotta anguckten und sagte, dass seine Mama eine Lehrerin für behinderte Kinder sei und wenn einer etwas wissen wolle, könnten sie immer ihn fragen. Wie wunderbar, oder? Wir haben da viel Glück.

Wie haben Sie vor der Behinderung von Lotta auf behinderte Menschen reagiert? Reagieren Sie heute anders?

Sandra Roth: Ich habe weggeguckt. Ich habe echt nicht gewusst, was ich machen soll und ich wollte auch nicht starren. Ich kannte auch keinen behinderten Menschen persönlich. Weggucken ist das, was ich heute am wenigsten mag. Ich kann ich die Leute allerdings verstehen, die das machen – ich habe es ja früher auch gemacht.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie Mitleid nicht mögen; blöd gucken und gaffen aber auch nicht. Was und wie wünschen Sie sich, wie andere Menschen auf Lotta bzw. generell auf behinderte Kinder reagieren sollten?

Sandra Roth: Das ist schwer. Ich finde es immer am Schönsten, wenn die Menschen machen, was sie sowieso machen. Neulich stand eine Oma neben mir und hat gesagt, „Ziehen Sie dem Kind mal eine Mütze an, es ist kalt heute!“. Fand ich super. Es war ja jetzt eigentlich ein bisschen unverschämt, aber das würde sie ja zu jedem Kind sagen, ob es jetzt in einem Buggy sitzt, oder in einem Rollstuhl. Ich finde es eigentlich schön, wenn man keinen großen Unterschied merkt. Es gibt ja auch Leute, die sind extra nett, die halten einem die Tür auf. Das ist ja auch schön, wenn einem jemand die Treppe hoch tragen hilft, aber an manchen Tagen will man eben genau das nicht. Es kommt auch immer darauf an, wie man selber gelaunt ist. An guten Tagen ist mir das alles ziemlich egal, dann kann ich sogar, mit dem, der starrt, etwas anfangen, und an schlechten Tagen will ich das alles nicht.

Lotta führt kein normales Leben,wie andere Kinder in ihrem Alter und wird auch nie ein solches Leben führen können. Wie fühlt sich das an als Mutter?

Sandra Roth: Ich weiß gar nicht, ob Lottas Leben so anders ist, als das anderer Kinder. Mir fällt eher auf, wie ähnlich es dem Leben meines Sohnes ist. Sie geht in den Kindergarten, sie hat Freunde, sie geht auf den Spielplatz und schaukelt, in einer Ringschaukel, wo man sie reinlegen kann. Sie hat Spaß, sie liebt Pizza, sie muss gefüttert werden und gewickelt und sie spricht nicht so viel. Aber die Unterschiede werden mir wohl später mehr auffallen. Im Moment denke ich, dass sie eigentlich ein sehr schönes Kinderleben hat. Ich weiß nicht, wie lange dieses Leben dauert, das weiß man bei keinem, aber bei ihr weiß man das noch weniger. Ich hätte mir auch nie vorstellen können, dass ich es so wie es jetzt ist gut finde. Deswegen weiß ich auch nicht, wie ich das einmal empfinden werde, was später mal kommt. Vielleicht werde ich dann verzweifeln. Ich hoffe nicht. Wenn ich dich angucke, dann habe ich sehr viel Mut. Ich treffe durch das Buch jetzt auch so viele wunderbare Menschen, ich lerne so viel dazu, und verliere immer noch ein bisschen mehr von meinen Vorurteilen.

Wie geht es Lotta derzeit?

Sandra Roth: Also jetzt ist sie im Bett, das findet sie doof – bis sie dann schläft. Sie war heute auf dem Spielplatz und hat sich schlapp gelacht, dass sie schaukeln durfte. Es sind sogar zwei Mädels zu ihr in die Schaukel gestiegen, die sie gar nicht kannte, und haben mit ihr zusammen geschaukelt. Das finde ich immer wieder toll. Gerade kann sie ihr Leben sehr genießen, auch gesundheitlich.

Was ist Ihre größte Sorge für Lottas Zukunft und was ist Ihre größte Hoffnung?

Sandra Roth: Meine größte Sorge ist: Was ist, wenn ich mal nicht mehr da bin, aber Lotta noch? Wer kümmert sich dann? Ich will nicht so gerne, dass mein Sohn das alles machen muss, Wie organisiere ich das? Und meine größte Hoffnung, dass sie mal ein bisschen mehr redet. Laufen ist natürlich auch ein großer Wunsch, aber reden fände ich gerade am Schönsten.

Lotta Fäller, 8c, Städt. Realschule A.d. Fleuth Geldern