Die Wissenschaft zum Elfmeter

von Tayler Kießling, Klasse 9, International School of Düsseldorf, Düsseldorf

Rumms. Ich habe schon wieder den Wecker geschlagen. Es ist Punkt vier Uhr in der Nacht und ich kann immer noch nicht schlafen, denn morgen steht das Meisterschaftsspiel in der C Junioren Liga an und die Aufregung ist groß. Wir brauchen drei Punkte, ansonsten sind wir ewiger Zweiter.

„Der Elfer gehört dir”
Wir haben viel trainiert: Abwehrtaktiken, offensiver Aufbau und natürlich Elfmeter. Beim Elfmeterschießen habe ich die meisten Tore erzielt, deshalb sagt mein Trainer: „Du schießt morgen den Elfer.“ Das macht mir Angst. Im letzten wichtigen Spiel habe ich ihn verschossen. Ich fühle mich fast schon so, wie es Borussia Dortmund einmal erging. Sieben verschossene Strafstöße hintereinander von November 1963 bis Januar 1965. Das ist einmalig in der Bundesliga-Geschichte und ich will so nicht vom Platz gehen. Trotzdem weiß ich nicht, was ich tun soll, denn die Angst wieder danebenzuschießen hält mich noch immer wach.

Verschossene Elfmeter
In der aktuellen Saison wurden von insgesamt 71 Elfmetern 52 verwandelt und 19 verschossen. Das entspricht einer Trefferquote von 73,2 Prozent. Auf der anderen Seite haben  26,8 Prozent danebengeschossen. Ein Viertel ist nicht gerade wenig. Eigentlich gemein: Alle reden über die Angst der Torhüter:innen vor dem Elfmeter. Aber keiner redet über die Angst der Schützen:innen. Die ganze Nacht denke ich darüber nach, wie ich den Elfer schieße.

Wissenschaftler zum Elfmeter
„Die Schützen:innen haben im Duell gegen die Hüter:innen einen Zeitvorteil“, sagt Kibele, Leiter des Fachgebiets Bewegungswissenschaft an der Universität Kassel. „Im Profi- und Halbprofibereich können stramm geschossene Bälle eine Geschwindigkeit um die 30 Meter pro Sekunde erreichen. Um einen Elfmeter abzuwehren, der in eine Ecke platziert wird, muss der Torwart daher abspringen, bevor der Fuß des Schützen den Ball trifft.”

Für mich heißt das: mit voller Wucht schießen – und natürlich die richtige Ecke finden. Das hilft mir nicht wirklich. Ich habe immer noch Angst. Ich habe noch fünfmal auf den Wecker geschaut, bis er klingelte.

Vor dem Spiel
Es ist sieben Uhr morgens und mir geht es nicht besser als in der Nacht. Die Aufregung steigt sogar noch mehr. Meine Hände sind schwitzen, mein Magen verdreht sich selbst und ich krieg mein Rührei nicht runter.

Mein Vater bringt mich zum Spiel. Er spricht über Gerd Müller, den besten Torschützen der Nation. „68 Mal traf Müller in 62 Länderspielen, damit war er unangefochtener Rekordtorschütze des DFB. 365 Tore schoss er in 427 Bundesligapartien, siebenmal wurde er Liga-Torschützenkönig. Sein Saisonrekord von 40 Treffern 1971/72 steht bis heute.” Was mein Vater aber leider auch erzählt: Es gibt einen weiteren, negativen Rekord Müllers: „die in seiner Bundesliga Karriere insgesamt zwölf verschossenen Elfmeter. Kein anderer Bundesligaspieler hat bisher mehr Elfmeter verschossen.” Das alles schüchtert mich nur noch mehr ein.

Meine Angst vor dem Elfer
Nachspielzeit, es ist die 97. Minute. Der Gegner foult einen Mitspieler im Strafraum, der Schiedsrichter zieht die Rote Karte. Es kommt was kommen musste: der Trainer wählt mich zum Elferschützen. Ich spüre meinen Puls im Hals, mein Bauch fühlt sich an, als ob der Ball auf mich geschossen wurde. Der Schiedsrichter zeigt auf den Elfmeterpunkt. Ich lege den Ball zurecht, meine Hände sind zu feucht und der Ball rutscht aus meinen Händen. Ich laufe an und schieße. Und der Torwart hält den Ball. Ich möchte am liebsten im Erdboden versinken. Doch dann pfeift der Schiedsrichter. Er geht zum Torwart und spricht mit ihm. Der Torwart flucht. Ich bin verwirrt: Der Schiedsrichter zeigt wieder auf den Elfmeterpunkt. Mir bleibt keine Zeit zu denken. Ich fühle nichts. Ich mache es einfach. Mit Vollgas anlaufen und den Ball treffen.

Mein Trainer weiß: “Besonders erfolgversprechend sind Schüsse in die rechte oder in die linke Ecke. Aber auch nahe am Pfosten ist der Ball oftmals unhaltbar.”

Mein Schuss landet neben dem rechten Innenpfosten im Tor.

Ich fühle mich hundert Kilo leichter, alle klopfen mir auf die Schulter, der Schiedsrichter pfeift das Spiel ab. Wir siegten mit einem knappen 1:0. Ich hatte Glück im Unglück, es gab einen zweiten Elfer. Denn: Es gibt eine neue Regel des DFB. „Wenn sich der Torhüter zu früh von der Linie bewegt, muss der Strafstoß wiederholt werden.“ Und ich habe die Chance genutzt. Für die Zukunft merke ich mir: einfach machen!