Erinnerungen an die Heimat – Entwurzelt und vertrieben

1946. Er hört laute, fordernde Schläge eines Gewehrkolbens an der Tür. Er liegt im Bett – angezogen, weil die Information durchgesickert war, man sollte verjagt werden. Mutter öffnet die Tür, eine polnische Polizistin tritt ein. Es folgt die Nachricht, dass sie ihre Wohnung verlassen und sich auf dem Ring in Neurode sammeln müssen. Der Schreck sitzt tief.

Neurode war ein preußisch-deutscher Landkreis in Schlesien. Im Zweiten Weltkrieg gab es in Neurode kaum Zerstörungen. Jedoch ging die Stadtverwaltung 1945 an Polen über und aus Neurode wurde Nowa Ruda.

Sie sind zu zweit, Mutter und Sohn (5), sein Vater fiel als Soldat. Nun sind die wichtigsten Dinge von zu Hause mitzunehmen. Mutter entschließt sich die Dinge, die wertvoll sind, im Garten einzugraben. Sie ist fest davon überzeugt, sobald wie möglich zurückzukehren.

1946 wurden circa sieben Millionen deutsche Menschen aus ihrer Heimat in Preußen und Schlesien nach Deutschland oder Österreich vertrieben. Nicht vertrieben wurden Deutsche, die für die Wirtschaft wichtig waren, meist Facharbeiter des Bergbaus. Gleichzeitig erließ Polen die Bierut-Dekrete, die ermöglichten, das gesamte Eigentum von Personen deutscher Nationalität zu Gunsten des polnischen Staates einzubehalten.

Am Nachmittag versammeln sich deutsche Einwohner auf dem Ring in Neurode. Die Angst, getrennt zu werden, ist unerträglich. Die Erwachsenen sollen nach Osten gebracht werden, die Kinder in den Westen. Jedoch werden alle in unbeheizte Viehtransporter gesteckt. Erleichterung. Es ist düster, es stinkt. Der Transporter bewegt sich – in Richtung Westen. Mutter ist froh. Entkräftet erreichen sie den Westen. Jetzt werden sie entlaust. Eine kaum zu ertragende Demütigung. Die Vertriebenen werden nach Nienburg verfrachtet, in ein Barackenlager, kalt und modrig, ohne Verpflegung. Am nächsten Tag werden die Familien auf umliegende Ortschaften und Bauernhöfe verteilt. Drei Zimmer und ein paar Betten müssen für sieben Personen reichen. Die Einrichtung des Bauernhofes ist einfach – ein Plumpsklo für 20 Personen.

Anfang 1946 waren 650.000 Flüchtlinge in Niedersachsen angekommen, was sich nachteilig auf die dort lebende Bevölkerung auswirkte: Wohnraummangel und Veränderungen der Wirtschafts- und Sozialstruktur. Spannungen waren alltäglich.

Mit der Zeit gewöhnen sie sich an dieses Leben auf dem Bauernhof. Sie lernen kleine Erfolgserlebnisse zu schätzen. Seine Mutter gibt irgendwann die Hoffnung auf, wieder zurück in die Heimat zu kehren. Sie hat später in Hessen eine neue Heimat gefunden und stirbt 2006 mit 96 Jahren. Er hat das Glück. 2009 kehrt er nach Nowa Ruda zurück. „Als wenn die Zeit stehen geblieben wäre“, beschreibt er sein Gefühl, als er vor seinem Geburtshaus steht. Es ist grau, vom Kohlenstaub. Es hat Einschusslöcher, aber das Innenleben ist noch wie 1946.

Durch den Warschauer Vertrag 1970 wurde Neurode endgültig polnisch. Er empfindet dies als unerträglich, da es sein Geburtsort und seine Heimat ist.

Leon Rothkopf, Düsseldorf, Humboldt-Gymnasium