Jedes vierte Mädchen ist ein Vergewaltigungsopfer. 70 Prozent der Täter waren vorbestraft, davon 85 Prozent wegen Vergewaltigung. 80 Prozent aller Taten sind Beziehungstaten, 98 Prozent der Täter sind männlich.
Egal, welcher Statistik man glaubt, Vergewaltigung ist ein schweres Verbrechen. Abgesehen von diversen körperlichen Verletzungen, Infektionen mit HIV oder Hepatitis, besteht auch die Gefahr einer unerwünschten Schwangerschaft. Am schlimmsten sind aber sicherlich die psychischen Langzeitfolgen wie Angst, Alpträume, eine gestörte Sexualität oder die Unfähigkeit, eine Beziehung zu führen. Ich sprach mit einer Expertin auf diesem Gebiet: Anja Heitkamp ist Kinder- und Jugend-Psychotherapeutin.
Sie sind Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche. Haben Sie es in ihrem Beruf oft mit sexuellen Übergriffen zu tun?
Heitkamp: Ja, ich habe es schon oft erlebt, dass bei Kindern die Grenzen nicht angemessen von Erwachsenen oder auch älteren Kindern gewahrt wurden.
Wie helfen Sie den Kindern, mit diesem Ereignis klar zu kommen?
Heitkamp: Nun, meistens ist es eben nicht nur ein Ereignis, sondern die Tat zieht sich über eine lange Zeit hin. Da die Kinder kaum eine ’normale‘ oder ‚gute‘ häusliche Situation kennen, gibt es kein klares Vorher-Nachher. Als erstes helfe ich den Kindern, ihre Wahrnehmung zu ordnen, um ihnen die Sicherheit zu geben, was richtig und was falsch ist. Erst danach kann man sich überlegen, wie es weitergeht und welche Schritte es jetzt geben muss.
Sie haben eine Schweigepflicht. Heißt das, dass auch Kinder zu Ihnen kommen, die Ihre Täter noch nicht angezeigt haben?
Heitkamp: Ja, überwiegend. Meistens ist es auch so, dass sie niemals angezeigt werden. Wenn doch, ist es für alle Beteiligten nur problematisch.
Sie raten also von einer Anzeige ab?
Heitkamp: Na ja. Das muss jedenfalls gut überlegt und auf keinen Fall vorschnell entschieden werden. Die Täter werden nur sehr selten verurteilt. Die Rechtssprechung kann die Aussagen der Kinder nur bei sehr exakten Zeit- und Ortsangaben anerkennen. Was nur sehr selten der Fall ist und den Kindern im anderen Falle das Gefühl gibt, dass ihnen niemand glaubt. Ohne sehr eindeutige Beweise würde ich von einer Anklage abraten.
Kann es denn nicht sein, dass ohne Anzeige der Missbrauch weitergeht?
Heitkamp: Wenn das der Fall wäre, könnte ich das Kind gar nicht therapieren. Es ist wichtig, vor der Therapie sicher zu stellen, dass das Kind in einer sicheren Umgebung lebt und auch die Verwandten vorzubereiten. Ansonsten ist es besser, langsam vor zu gehen.
Wenn ich als Kind sexuell misshandelt werde, könnte ich dann auch ohne Einverständnis meiner Eltern in Therapie bei Ihnen gehen?
Heitkamp: Ab 14 Jahren wäre das möglich. Jüngere könnten natürlich kommen, aber dann müsste in jedem Fall das Jugendamt und später auch die Eltern eingeschaltet werden. Denn ohne Zustimmung der Eltern darf ich niemanden unter 14 Jahren behandeln.
Katja Ackermann, Hilden, Priv.dietr.-Bonhoeffer-Gym.