Sie weiß sehr genau, was sie will. Was sie nicht will, meist noch besser. Und sie gibt sowohl das eine als auch das andere unumwunden zu.
Damit meine ich meine Schwester Julia. Sie hat das Down-Syndrom. Das heißt, dass jede ihrer Körperzelle 47 statt 46 Chromosomen hat. Klar, das ist vielleicht ein bisschen ungewöhnlich, aber nichts Besonderes, oder?
Der „Kampf“ beginnt frühmorgens im Badezimmer, wenn Julia sich unter keinen Umständen ihre Zähne putzen will. Da hilft kein gutes Zureden oder jegliche Arten von Bestechungen – nichts und niemand kann sie jetzt davon überzeugen, sich doch die Zähne zu putzen.
Das führt wegen Zeitmangels oft dazu, dass unsere Mutter ihr diesen schrecklichen Vorgang abnimmt. Danach soll Julia sich anziehen. Also sucht sie eine hellblaue Dreiviertel-Hose, gelbe Socken, ein rotes T-Shirt und einen lila-pinken Rollkragenpullover aus, denn man muss an einem warmen Frühlingstag ja immer damit rechnen, dass plötzlich die „Kalte Sophie“ vor der Tür steht.
Nachdem sie ihre roten Schuhe und die hellgrüne Jacke angezogen hat, kommt sie mit den Worten „Alleine angezogen!“ ganz stolz in die Küche und erwartet – wie jedes Kind – das große Lob. Dass Mama daraufhin nur „oh nein“ seufzt und erstmal einen Lachanfall bekommt, kann sie ja nun gar nicht verstehen. Also lässt sie sich – „Mama´s blöd!“ murmelnd – mitten in der Küche auf den Boden plumpsen und schmollt.
Als diese sie später dazu bewegen will, sich wieder umzuziehen, übt Julia sich gerade im „Bloß-nicht-reagieren-wenn-jemand-etwas-von-dir-will“. Tja Mama, Pech gehabt! Schließlich schafft sie es aber doch nach einigem Hin und Her, Julia – immer noch grummelnd – fertig angezogen und gewaschen in den Schulbus zu setzen. Was man in solchen Situationen auf jeden Fall lernt, ist eine übergroße Portion Geduld und Toleranz.
Toleranz auch im Bezug auf andere Menschen, denn nicht wenige zeigen oft eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit Julia. Diese Unsicherheit spielte sicher auch eine große Rolle, als Julia in die Schule kam. Denn obwohl es im Grundgesetz heißt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“, war es nicht möglich, für Julia einen Platz in einer normalen Grundschule zu finden. Denn für viele Lehrer bedeutete meine Schwester einfach nur eine zusätzliche Belastung, da sie alles langsamer lernt und für bestimmte Dinge mehr Zeit braucht, das heißt, in ihrer gesamten Entwicklung verzögert ist, also nicht ihrem Alter entsprechend handelt.
Dabei ist Integration oft das einfachste Mittel, Julia etwas beizubringen. Sie nimmt nämlich andere Kinder als Vorbild, guckt sich Dinge bei ihnen ab, wird von ihnen angespornt. Durch ihre geistige und körperliche Verzögerung muss sie häufige Arzt- und Therapeutenbesuche hinter sich bringen, wobei sie immer wieder lautstark betont, dass sie dazu keine Lust mehr hat. Allerdings kann ihre Sprachverzögerung manchmal auch von Vorteil (für ihre Mitmenschen) sein.
Als meine Mutter und ich am letzten Samstag mit Julia in der Stadt waren, kam uns eine Frau mit wunderbar mo-disch kariertem Rock, dazu (nicht) passenden knallig pinken Stiefeln, hellbrauner Jacke und roten Haaren entgegen. Wahrscheinlich hat jeder gedacht „Oh mein Gott“, aber da Julia einen sehr direkten Charakter hat, rief sie: „Iiiih, tutt mal da, etlhaft Frau anhat!“ Mama und ich begannen plötzlich, uns sehr für die Playmobilpüppchen im Schaufenster nebenan zu interessieren und versuchten, auch Julias Aufmerksamkeit auf diese zu lenken – mit Erfolg.
Die Frau hatte zwar mitbekommen, dass Julia etwas gerufen hatte, sie, Gott sei Dank, jedoch nicht verstanden und war weitergelaufen. Nach diesem Erlebnis beschlossen Mama und ich, das sei genug Aufregung für heute gewesen und nur noch schnell einkaufen zu fahren.
Das Problem ist allerdings, dass Einkaufen für Julia bedeutet, alles in den Wagen zu packen, was ihr gerade in die Hände fällt. Wenn wir sie dann bitten, die Gemüsebrühe wieder dorthin zu legen, wo sie sie hergenommen hat, kommt meist nur „weiß nis“ und die Brühe findet sich im Kühlregal wieder. Falls sie sich aber gerade in den Kopf gesetzt hat, dass sie diese Gemüsebrühe unbedingt haben will und wir ihr vorsichtig erklären, dass wir diese im Moment gar nicht benötigen, folgt ein lautes Herumschreien und durch den Laden rennen bei dem Versuch, ihr die Gemüsebrühe wieder abzunehmen.
Die meisten Leute gucken dann schon ziemlich entsetzt und fragen sich wahrscheinlich, wie eine Mutter ihr Kind so quälen kann. In solchen Momenten frage ich mich, wer hier eigentlich wen quält. Später an der Brötchentheke wird sie von der Verkäuferin angelächelt, woraus Julia interpretiert „mein Freund“. Auch sonst kommt es schon mal häufiger vor, dass sie auf wildfremde Menschen, die ihr sympathisch sind, zugeht, sich vor sie stellt und einfach anlächelt – im Extremfall rennt sie zu der gerade zu ihrem „Freund“ erkorenen Person hin und fällt ihr um den Hals.
Die meisten Menschen nehmen das jedoch mit Humor. So ist es auch, wenn wir essen gehen wollen. Eigentlich ist jeder Platz in dem von uns ausgewählten Restaurant besetzt und wir haben schon beschlossen wieder zu gehen, als Julia einen Tisch entdeckt, an dem zwar schon zwei Personen sitzen, aber noch genug Stühle für uns sind. Sie geht dort hin und setzt sich wie selbstverständlich an den Tisch. Während wir noch zögern, ist Julia schon mitten ins Gespräch mit ihren Tischnachbarn vertieft. Nachdem wir uns dann endlich entschlossen haben, uns hinzu zu setzen, fegt Julia mit einem Mal das ganze Geschirr vom Tisch. Da ihre Wahrnehmung beeinträchtigt ist, hat sie auf dem Weg zur Toilette nicht bemerkt, dass sich zwischen Tisch-decke und Stuhl zu wenig Platz befindet, um einfach so aufzustehen.
Diese Wahrnehmungsstörung und vielleicht auch leichte Grobmotorik habe ich besonders kennen gelernt, als ich mir im Sportunterricht eine Knochenabsplitterung zugezogen hatte. Als ich nach der Schule nach Hause kam, meinen Finger kühlend, bemerkte Julia sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie fragte: „Hassu denn?“ Einfachheitshalber antwortete ich: „Ich hab mir wehgetan.“ So etwas hatte Julia ja noch nie gesehen, das musste sie sich erstmal genauer anschauen. Und mit den Worten „Wo denn? Zeig mal“ umfasste sie meinen Finger und packte fest zu. „Aua. Ja genau da!“, schrie ich. Gleich darauf kam Mama angerannt, um herauszufinden, warum ich so geschrien hatte.
Doch schon während ich ihr noch leicht angesäuert erzählte, was vorgefallen war, kam Julia zu mir und war plötzlich die Feinfühligkeit in Person. Sie sagte „Sullidung, Laura“ und streichelte meinen Finger ganz vorsichtig. Als sie dann auch noch pustete, als müsse sie zehn Windräder gleichzeitig ans Laufen kriegen, war mein Ärger ganz verflogen und schon fragte ich mich, wie ich jemals hatte sauer auf sie sein können.
Manchmal jedoch war ich nicht so einfach wieder zu beruhigen – denn es ist einfach nicht möglich, sich mit ihr wie mit anderen Schwestern zu streiten. Ein Grund mich über sie aufzuregen, gab es, als sie noch jünger war. Dann fügte sie meinen Schulheften – mit Hilfe von „Steno“-Kürzeln – gerne ihre eigene Meinung hinzu. Allerdings natürlich nicht mit Stiften, die leicht zu vertuschen waren, sondern mit besonderer Vorliebe mit dunkelblauen und schwarzen Filzstiften sowie Edding und Kuli.
In solchen Fällen kamen dann plötzlich Julias imaginäre Freunde dazu, die immer das Schuld waren, was sie gerade angestellt hatte. Wenn ich ihr jedoch sage, was mich gerade an ihr nervt, gibt es zwei Möglichkeiten, wie sie reagiert: Entweder sie sagt „Boah du bis blöd!“, brummelt ein bisschen vor sich hin und geht, oder sie kommt langsam auf mich zu, legt ihre Hand auf meine Schulter und sagt „Alles gut, Laura, alles gut.“ Dann geht sie seelenruhig davon, als wäre nichts gewesen. Dass ich danach fast überkoche vor Wut, ist für Julia mehr als uninteressant.
Es gibt aber auch Tage, an denen meine Schwester die perfekte Verbündete ist. Zum Beispiel, wenn ich mich mit unserer Mutter streite und jemanden brauche, an dem ich meinen Dampf über sie auslassen kann, kann ich Julia alles erzählen.
Dass sie versteht, warum ich mich gerade so aufrege, steht zwar nicht unbedingt fest, aber sie hört mir zu; und das reicht mir in dem Augenblick vollkommen. Einmal habe ich zum Schluss eines solchen Gesprächs gesagt „Die kann mir doch den Buckel runter rutschen!“, was Julia allerdings nicht verstand, da sie diesen Aus-druck nicht kannte, und sich mit der Bemerkung „Hä?“ bestens ausdrückte. Ich sagte noch einmal „Jaa, den Buckel runter“, woraufhin sie wiederholte „Buttel runta!“ und wir beide einen derartigen Lachkrampf bekamen, dass wir schon Bauchschmerzen hatten.
Und das nur, weil sie ihre Aussprache so lustig angehört hatte. In solchen Momenten ist mir meine Schwester Gold wert. Seit diesem Tag benutzen wir „Buttel runta!“, wenn Mama gerade mal wieder tierisch nervt oder wir einfach nur etwas zum Schmunzeln brauchen.
Zum Schmunzeln gibt es für mich auch immer wieder etwas in der Kirche, wenn sie in der Bank steht und mit ihrem „dezentem Stimmchen“ anstatt „Halleluja“ lautstark „Hallo Julia!“ singt. Dabei zeigt sie ganz stolz auf sich und erklärt jedem „Ich! Ich!“. Ein wenig peinlich fand ich es jedoch während der Heiligen Kommunion, als Julia vor dem Pastor stand und ihm freundschaftlich über den Bauch streichelte – ihr Kommentar: „mein Freund“!
Im Nachhinein macht mir diese Situation nichts mehr aus und ich empfinde sie ganz einfach als witzig.
Ebenfalls wenn Besuch da ist und dieser nur mal erwähnen sollte „Wir sollten mal langsam gehen“, ist Julia sehr zuvorkommend und bringt ihnen die Jacke. Sobald die Besucher diese angezogen haben, schiebt sie sie mit den Worten „So. Tschüss“ fast buchstäblich zur Tür hinaus.
Doch so anstrengend meine Schwester manchmal auch ist, so peinlich, so nervig, ich würde sie gegen nichts auf der Welt eintauschen. Denn man kann mit niemandem so viel lachen und Spaß haben wie mit ihr und eins kann ich garantieren – mit ihr wird es nie langweilig!
Laura Schuh, Goch, Coll. Augustinianum Gaesdonck