Vor mir sitzt eine 83-Jährige, die zunächst gar nichts von meinem Vorhaben, sie zum Krieg zu befragen, hält. „Das interessiert doch niemanden mehr“ und „Meine persönlichen Erfahrungen wollen doch andere gar nicht wissen“, sagt sie. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie sich nur nicht mehr so genau an die schlimmen Zeiten des Krieges erinnern möchte. Aber dann fängt sie doch an zu erzählen.
„Beim Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 war ich acht Jahre alt. Mein Vater wurde sofort eingezogen. Er kam erst nach sieben Jahren aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause.
Mit zehn Jahren kamen wir zur Hitlerjugend. Das gefiel meinem Vater überhaupt nicht. Als er noch in seinem Friseurgeschäft gearbeitet hat, war es ihm verboten, Juden zu bedienen. Deshalb ließ er sie heimlich in unsere Privatwohnung kommen.
Wir fanden die Hitlerjugend toll, denn es wurde viel Sport getrieben, viel gesungen und das Wort Kameradschaft wurde groß geschrieben. Wie man uns betrogen hat, haben wir erst viel zu spät gemerkt.“
Ihr Blick senkt sich, sie kämpft mit den Tränen, fährt dann aber fort: „Nach jahrelangen Siegmeldungen wurde das Leben immer schwerer. Da wir westlich von Berlin lebten, hatten wir nun fast jede Nacht Fliegeralarm und verlebten die meiste Zeit der Nächte im Luftschutzkeller. Alles wurde abgedunkelt. Wir trugen Leuchtplaketten, damit wir uns nicht gegenseitig umrannten. Aus feindlichen Flugzeugen wurden Leuchtfeuer abgeworfen. Wie Christbäume strahlten sie am Himmel. War der Fliegeralarm nach 24 Uhr, brauchten wir am nächsten Tag nicht zur Schule zu gehen. Ich verlebte dann den Tag am Bahnhof, um zu helfen, die vielen Flüchtlinge aus dem Osten zu versorgen.
Im April/Mai 1945 begann die Schlacht um unsere Heimatstadt. Die Hausbewohner kauerten im Luftschutzkeller. Zeitweise bekämpften sich russische und deutsche Soldaten über uns im Haus. Es wurde immer bedrohlicher, alle Häuser rings herum brannten schon, da verließen wir in Panik unser Haus und rannten durch die brennenden Straßen mitten durch den Kugelhagel. Ich weiß es noch ganz genau, ich stellte meine Tasche auf den Boden, kniete mich hin und fing an zu beten. „Bitte, bitte lieber Gott, helfe uns!“
Nach qualvollen Stunden erreichten wir den Hof meiner Großeltern. Helmut, der jüngste Sohn meiner Großmutter wurde mit 17 Jahren noch kurz vor Kriegsende eingezogen. „Mutter, ich will doch nicht gehen“ hat er gefleht. Die Mutter befahl ihm unter Tränen zu gehen, da er sonst erschossen würde. Kurze Zeit später starb er an der Westfront.
Die Kapitulation erlebten wir auf dem Hof meiner Großeltern. Nun begann die Zeit des Hungerns. Sämtliches Vieh war abgetrieben worden. Meine Mutter hat mir später erzählt, dass ich sie gefragt habe, ob es wohl noch mal eine Zeit geben werde, in der man mehr als eine Scheibe Brot am Tag zu essen hätte. Ein paar Monate nach Kriegsende begann die Schule wieder. Mindestens 50 Prozent meiner Klassenkameradinnen waren während der Kriegszeit vergewaltigt worden.“
Ich werde immer nachdenklicher und frage, wie man diese schrecklichen Erlebnisse verarbeiten kann. „Dass man sie wirklich ganz verarbeiten kann, glaube ich nicht“, antwortet sie und fügt hinzu: „Bei jedem Feuerwerk tauchen die Bilder der am Himmel strahlenden „Christbäume“ wieder in mir auf und auch das Sirenengeheule beim Probealarm lässt die bedrückenden Gefühle immer wieder aufleben.“
Leander Scheel, 8a, Gärres-Gymnasium Düsseldorf